Sittlichkeit und Kriminalität
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Sittlichkeit und Kriminalität
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Kraus, Karl
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München
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345 S.
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Aufsätze und Glossen von Karl Kraus, erschienen 1908. - Dem Band, dessen Texte bereits in der Fackel (Nr. 109-237; 1902-1907) erschienen waren, gingen fünf »Sonderausgaben« der Fackel voraus, in denen Einzelaufsätze einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden (Sittlichkeit und Criminalität, 1902; Der Fall Hervay,1904; Irrenhaus Österreich, 1904; Die Kinderfreunde, 1905; Der Prozeß Riehl, 1906). Die »Sonderausgaben« der Fackel markieren ein Zwischenstadium in dem Prozeß der immer stärker werdenden Objektivierung behandelter Sachverhalte. Herrscht zunächst noch die leidenschaftliche Stellungnahme zu einem aktuellen Ereignis vor, so wird nun der gesellschaftskritische Bericht für die Buchveröffentlichung einer sprachlichen Gestaltung unterworfen, »die in der Konservierung und Gruppierung all dessen, was aus der Umklammerung des Tagesinteresses gerettet werden konnte, einer völlig neuen Arbeit gleichkommt«. Der Anlaß tritt in den Hintergrund, das System wird erkannt. Bei der Ankündigung von Sittlichkeit und Kriminalität werden bereits weitere Buchveröffentlichungen angezeigt, denn »die Fackel ist keine Zeitung, sondern ein periodischer Vorabdruck aus Büchern« (1913). Geplant war zunächst ein zweibändiges Werk unter dem Titel Kultur und Presse, das allerdings unterdrückt wurde. Nach der aus dem Themenbereich von Sittlichkeit und Kriminalität entstandenen Aphorismensammlung Sprüche und Widersprüche (1909) folgte 1910 Die chinesische Mauer, das große Gegenstück, mit Aufsätzen gegen die Moralheuchelei »im Bürgerkrieg der Sitte gegen die Natur«. Der Titelaufsatz der Sammlung - Sittlichkeit und Kriminalität (1902) - wird mit Zitaten aus Shakespeares König Lear und Maß für Maß eingeleitet, in denen die Diskrepanz zwischen der privaten Ethik und dem Gesetz bereits festgestellt wird: »Shakespeare hat alles vorausgewußt«, ist die 1902 ausgesprochene Einsicht, die Kraus dreißig Jahre später dazu führt, auf den Nationalsozialismus öffentlich mit der Vorlesung von Shakespeares Dramen zu antworten. - Kraus unterscheidet zwischen der Verpflichtung des Gesetzgebers, Gesundheit und die Unverletzlichkeit von Leib und Leben, die Wehrlosigkeit und die Unmündigkeit zu schützen, einerseits und andererseits der individuellen Ethik, in der kein Mensch über den anderen richten dürfe. Wo sich aber die Sexualjustiz den Normen der Gesellschaft unterwirft, wo das gesunde Volksempfinden zum absoluten Maßstab für Gesundheit und Leben erklärt wird und die »ewige Nachbarin öffentliche Meinung« ihre Opfer fordert, da werden mehr Rechtsgüter preisgegeben als Rechte geschützt. Die eklatanteste Verletzung allgemeiner Rechtsgüter sieht Kraus in der Haltung der Presse, die in ihren Gerichtssaalberichten eben jene »Abweichungen von der Norm« unnachgiebig verfolgt und ausbeutet, die erst durch unmißverständliche Annoncen in den Anzeigenteilen eben jener Presse ermöglicht wurden. Kraus nennt die Presse eine Kupplerin, die zudem öffentlich gegen den Grundsatz des Schutzes Unmündiger verstoße. Er deckt den Zusammenhang von geschäftlichen und öffentlichen Interessen auf und nennt diesen Sachverhalt Korruption: »Korruption (aber) ist schlimmer als Prostitution«, denn diese gefährdet »höchstens die Ethik eines Individuums«, während jene die öffentliche Gesittung schädigt. »Der Wahn, daß geschlechtliche Betätigung sittliche Wertminderung bedeute, erzeugt eine Verbissenheit, die ihre Orgien in der Kontrolle des Freien genießt. Die Überzeugung liegt im ewigen Kampf mit der eigenen Natur; unterliegt sie, ist sie durch das Bewußtsein der Sünde zweifach geschwächt und nimmt Rache an der Natur - des Andern.« Sexualneid, die gängige Münze bürgerlicher Moral, die Presse, die ihr Ausdruck verleiht und durch Korruption zum öffentlichen Skandal beiträgt, und die Justiz provozieren Unsittlichkeit durch die unnachgiebige Forderung nach Sittlichkeit. Wo dem Zuhälter das Risiko mitbezahlt werden muß, dort gedeihen Wucher und Ausbeutung. »Das Kuppeleiverbot hat die Kuppelei mit dem Wucher verkuppelt.« Erpressung ist die notwendige Begleiterin von Verboten, deren Geltung nur durch Denunziation aufrechterhalten werden kann. Wo Indizien zur Verurteilung nicht ausreichen, bedient man sich der Psychologie, die ihre aufklärerischen Ziele längst den allgemeinen Vorurteilen unterworfen hat. Kraus zieht die individuelle Schuld eines Angeklagten nicht in Zweifel. Er attackiert jedoch jene, die über ihn zu Gericht sitzen: »Ein Sittlichkeitsprozeß ist die zielbewußte Entwicklung einer individuellen zur allgemeinen Unsittlichkeit, von deren düsterem Grunde sich die erwiesene Schuld des Angeklagten leuchtend abhebt.« Wenn es Kraus zunächst nur um die Trennung zweier Begriffe ging, die nicht notwendig ineinander aufgehen, so entwickelt sich aus der Analyse dieses Antagonismus die Einsicht von einer »Gesittung, die der zwischen Arbeitstier und Lustobjekt gestellten Frau gleißnerisch den Vorrang des Grußes läßt, die Geldheirat erstrebenswert und die Geldbegattung verächtlich findet, die Frau zur Dirne macht und die Dirne beschimpft, die Geliebte weniger achtet als die Ungeliebte . . .« Und er stellt fest: »Die Sitte ist geschützt. Und die Sittlichkeit könnte arg überhandnehmen, wenn's nicht Verbote gegen die Unsittlichkeit gäbe.« Kraus verfolgt die Gesellschaft nicht mit moralischen Vorhaltungen. Er entwirft kein paradiesisches Gegenbild einer Gesellschaft. Seine Dialektik ist Aufklärung durch das wörtliche Zitat.
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